Eric Pfeils Pop-Tagebuch: Diddle Day im Bananenrock – eine fröhliche Reise mit der Shazam-Rakete durch Zeit und Raum

Zu den beliebtesten Kulturtechniken, die Menschen mit popmusikalischem Bildungsvordergrund in den letzten Jahren verstärkt praktizieren, zählt es, sein mit einer Musikerkennungs-App ausgestattetes Telefon zum Zwecke der Lied-Identifizierung in Richtung öffentlicher Lautsprecher zu halten. Sieht blöd aus, führt aber zum Song.
Hierbei sammeln sich nach und nach ausgesprochen eklektische Listen an, und mancher ist beim späteren Sichten dieser Listen nicht selten verwundert, was er sich da alles an Musik zusammenidentifiziert hat. Ich behaupte: die zehn letzten geshazamten Stücke sagen mehr über eine Person aus als ein ausführlicher popkultureller Steckbrief mit Lieblingsbands, Lieblingsplatten und All-Time-Fave-Flötensolos.
Dieser Eintrag behandelt die zehn Songs, die ich zuletzt in Cafés, Kneipen oder Supermärkten von der App habe erkennen lassen. Er lässt womöglich tief blicken.

Roberto Carlos – La Donna Di Un Amico Mio
Das Stück klingt wie der Versuch einer gymnasialen Computer- und Musik-AG auf neu erworbenen Billig-Keyboards einen japanisch beatmeten Dub-Track aufzunehmen.
Tatsächlich war die Band The Igniters ein kurzlebiges Nebenprojekt der australischen Ska-Formation The Allniters, die es zu Beginn der Achtziger fertig brachte, zupackenden Ska-Pop mit E-Drums zu spielen, was als allenfalls mittelgute Idee bezeichnet werden muss. Der größte Allniters-Hit, eine Coverversion von Bobby Blooms „Montego Bay“, stieg seinerzeit bis auf Platz 19 der australischen Charts. Das vorliegende Stück stammt ursprünglich von einer EP aus den mittleren Achtzigern und ist auf der Compilation „Midnite Spares“ zu finden.

Mark Knopfler – Skydiver
Tja, Mark Knopfler: Was soll ich sagen? Jetzt shazame ich also schon urgemütlich daherknarzende Stücke ehedem misstrauisch beäugter Classic Rock-Veteranen.
Ich habe Knopfler vor Jahren mal unfreiwillig live gesehen, als er mit Bob Dylan auf Tour war. Der Mark-Knopfler-Fanclub hatte weite Teile des Ticket-Kontingents für das Konzert aufgekauft und beklatschte jeden Tritt ihres Helden auf die Effektpedale. Es war furchtbar.
Als dann Dylan kam und ich beim ersten Stück aufsprang, blaffte man mich ungebührlich von hinten an: „Hinsetzen! Wir sehn nix.“ Das Problem löste sich gottlob bald, da ein Großteil der Knopfler-Klientel nach zwei Dylan-Songs begann, ob des komischen Gerumpels auf der Bühne kopfschüttelnd die Halle zu verlassen.

Pino Daniele – Io Ci Sarò
Jede italienische Stadt hat ihren popmusikalischen Riesen. Rom hat Antonello Venditti, Bologna hat Lucio Dalla, Genua hat Fabrizio de André – und Neapel hat Pino Daniele.
Der 2005 im Alter von 59 Jahren an einem Herzinfarkt verstorbene Sänger ist für Neapolitaner eine fast mythische Größe, der dort – ähnlich wie Diego Maradona oder dem Komiker Totò – an jeder zweiten Straßenecke in Form von Altären oder Graffiti gehuldigt wird. Typisch für Daniele war das Verknüpfen süditalienischer
Musikspielarten mit Blues, Folk, Jazz und afrikanischer Popmusik.
Der genannte Song stammt aus dem 1984er Album „Musicante“. Mir liegen seine ganz frühen Platten etwas mehr. Ganz toll ist etwa „Terra mia“ von 1977.

Dave Diddle Day – Blue Moon Baby
Klar, dass die Cramps dieses Sleaze-Swamp-Meisterwerk aus dem Jahr 1957 covern mussten: „Way down in Mexico / There’s a crazy little chick that I know / In a honky tonk on the outskirts of town / Where the music’s hot and the lights turned down“.
Alles hier klingt grandios: die twangige Gitarre, die fitzelige Orgel, die pappigen Bongos. Verruchtheit liegt in der Luft, man ist bereit, den Verstand fahren zu lassen. Oder sich einen Bananenrock zu kaufen. Über Dave Diddle Day weiß ich tatsächlich gar nichts, es existieren keine Fotos von ihm, die ihn beim muffigen Herumsitzen in Autos zeigen. Aber wer sich mit Mittelnamen „Diddle“ nennt, kann kein schlechter Mensch sein. Ein Kracher, volle Punktzahl!

American Spring – Sweet Mountain
American Spring waren ein kurzlebiges Duo, das aus Brian Wilsons Ex-Frau Marilyn und ihrer Schwester Diane Rovell bestand. 1972 veröffentlichten die beiden ihr einziges Album, auf dem sich dieses verhuscht-schöne Stück befindet. Brian Wilson, der kurz davor war, seine bettlägerige Phase einzuläuten, hat zu dieser Zeit ja nicht sonderlich viel komponiert, aber was er hinbekam, war meist großartig. Die Krone aber ist der schläfrig-schiefe Gesang der Schwestern, der das Ganze fast wie ein bekifftes Stück der Roches klingen lässt. Am Schluss ist der Maestro offenbar selbst zu hören.

Hans Zimmer – Finale (William Tell Overture)
Sekunde, DAS habe ich geshazamed? Ich wüsste gar nicht, unter welchen Umständen mich dieser Quatsch interessiert haben könnte … Vielleicht hat sich im vorliegenden Fall ja auch ein Familienmitglied meiner App bemächtigt. Hier wird jedenfalls für den Soundtrack eines vernachlässigenswerten Johnny-Depp-Films Gioachino Rossini gefleddert. Es tut mir alles so leid.

Gabriella Cohen – Music Machine
Huch, ich habe sie gar nicht erkannt. Dabei war ihr Debütalbum eine meiner Lieblingsplatten 2016. Hier geht es eigentlich genau so weiter. Die Australierin Gabriella Cohen sollte mit ihrem verkifften Slacker-Gitarrenpop allen Menschen, die Kevin Morby oder Courtney Barnett mögen, eigentlich sehr gut gefallen. Auch hier stehen hörbar Reed und Dylan Pate. Slacker-Ennui trifft bekiffte Nursery Rhymes.
Vor allem im gesanglichen Ausdruck ist Frau Cohen ein paar Etagen extrovertierter als die oben genannten Kollegen, auch ein Hang zum Flamboyanten lässt sich nicht leugnen.

Johnny Marr – Hi Hello
Lustig, dachte ich, als ich dieses Stück im Radio hörte: Wer klingt denn da wie ein Morrissey-Soundalike nach zuviel Soja-Latte? Es ist tatsächlich der einstige Smiths-Gitarrist Johnny Marr! Gerüchten zufolge handelt es sich bei dem Stück um den einzig brauchbaren Beitrag auf dem jüngsten Marr-Soloalbum.

Roky Erickson – I Am
Auch nicht erkannt, obwohl ich das Album irgendwo herumstehen habe.
„I am in Satan’s all perfect Love“, singt der große, bis ans Ende seines Verstandes durchpsychedelisierte Texaner zu schraddeliger Akustikgitarre und atmosphärischer Slide.
Ich hatte vor fünf, sechs Jahren mal das Glück, einem denkwürdigen Erickson-Auftritt in des Sängers Heimatstadt Austin, Texas beizuwohnen. Begleitet wurde er von den mindestens ebenso phänomenalen Meat Puppets, so dass man sich fragen musste, welcher der Protagonisten im Laufe seines Lebens wohl die meisten Drogendämonen aus dem Kühlschrank hat krabbeln sehen. Im Publikum: ein einigermaßen fassungsloser J. Mascis. Am hinteren Bühnenrand tanzte eine ältere Dame im Blumenkleid – ich vermute, es war Ericksons Partnerin.

Und jetzt Sie, liebe Leserin. Schicken Sie mir alle ihre Shazams. Ich werde daraus einen Dave-Diddle-Day-Ehren-Bananenrock basteln, diesen versteigern und von dem Erlös dem armen Roberto Carlos ein schöneres Wikipedia-Foto kaufen. Für eine bessere Welt.