Ende September fuhr ich zum Hambacher Forst, um dort an einer Demonstration gegen die Niedermachung des gleichnamigen Waldstücks teilzunehmen. So sehr ich von der Richtigkeit der Kundgebungen überzeugt bin, so sehr muss auch festgehalten sein: An der Ästhetik des friedlichen Widerstands gegen Waldabholzungen hat sich seit den späten Achtzigern nichts geändert. Auch nicht an der Musik. So wie sich Lieschen Müller den musikalischen Teil einer Pro-Hambi-Kundgebung vorstellt – genau so hörte er sich an diesem Sonntag an.
Gerade intonierte der als „Gerd“ vorgestellte Haussänger der Bewegung, von tausenden sangeskräftigen Kehlen unterstützt, seinen nicht unanrührenden Ermunterungs-Song „Hambi bleibt!“, da entdeckte ich neben mir eine Dame, die ein selbstgebasteltes Transparent in die Luft reckte. Darauf prangte neben der Zeichnung eines Marienkäfers der Slogan: „Diesmal Karl, den Käfer, fragen!“ So wenig ich finde, dass man im hier verhandelten Kontext auf Käferbefragungen angewiesen wäre, so hartnäckig nistete sich schlagartig ein äußerst unwillkommener Ohrwurm ein.
„Karl der Käfer“ war 1983 ein Hit für die Gruppe Gänsehaut, ein gleichermaßen von den Auswüchsen der NDW und der Liedermacherei beeinflusstes Trio, das aus den Trümmern der Kölner Prog-Band Satin Whale hervorgegangen war. Interessanterweise waren zur Zeit ihres Hitparaden-Erfolgs alle drei Gänsehaut-Mitglieder – Sänger Wolfgang Hieronymi, Gitarrist/Bassist Dieter Roesberg und Keyboarder Gerald Dellmann – als Redakteure bei der Zeitschrift „Fachblatt Musikmagazin“ tätig, das Popmusik vornehmlich unter nüchtern-technischen Möglichkeiten beleuchtete.
„Ein Band aus Asphalt breitet sich aus / Fordert die Natur zum Rückzug auf / Eine Blume, die noch am Wegesrand steht / wird einfach zugeteert“, dichteten Gänsehaut zu einer Musik, die klang als habe man einen depressiven Kinderliedermacher in der Synthesizer-Abteilung eines Musikalienhandels ausgesetzt. Das Lied stieg bis auf Platz 23 der Charts, man sah die etwas steif agierende Band auch in der ZDF-Hitparade. Auch ein gleichnamiges Album wurde veröffentlicht, das sich allerdings nicht in den Charts platzieren konnte. Als Nachfolgesingle ließen Gänsehaut „Karl der Käfer“ den sehr artigen Pop-Schlager „Schmetterlinge gibt’s nicht mehr“ folgen. Im Refrain heißt es: „Schmetterlinge gibt’s nicht mehr / Felder und Wiesen sind leer.“ Nun ja.
„Gibt es gute Achtziger-Deutschpop-Songs zum Thema „Umweltschutz“?“, mag nun mancher nachgeborene Leser fragen. Schwierig. Als weiteres ungutes Beispiel kommt zunächst Peter Maffays, von Dhana Moray, Claudia Nay und Michael Marian getexteter Apokalypse-Schlager „Eiszeit“ aus dem Jahr 1982 in den Sinn: „Eiszeit, Eiszeit / Wenn die Meere untergehn und die Erde bricht“. Ja, das große Brechen, das der Seher Maffay prophezeite, es setzte tatsächlich rasch ein. Fun Fact: Dhana Moray, eine der drei Textdichterinnen des Stücks, legte als Sängerin einige Jahre später eine deutsche Version von Tanika Tikarams „Twist in my Sobriety“ vor. Der Titel: „Schwarze Augenringe nur von dir“.
Im selben Jahr wie Maffay verhob sich auch die Hippie-Band Grobschnitt an dem Versuch, mit einem ebenso zeitgeistigen wie kommerziellen Umwelt-Hit die Charts zu knacken. „5000 Bäume, die heut sterben soll’n / Ein Blatt Papier erklärt, warum / 10000 Menschen, die das nicht mehr woll’n / Wir bleiben nicht mehr länger stumm / Wir wollen leben“, sang Frontmann Willi Wildschwein (!) im Duktus eines alternativen Jugendgruppenleiters. Musikalisch ist „Wir wollen leben“ der erstaunlich unverblümte Versuch, Phil Collins’ „In The Air Tonight“ abzuklatschen: auf einen von unterdrückter Anspannung geprägten Drumcomputer-Part folgt nach einer fast exakten Kopie des aus dem Original bekannten Schlagzeug-Breaks die Entladung ins Hymnische.
Interessanterweise greift auch ein anderer berühmter Umweltschutz-Hit der Dekade mehr als schamlos auf ein bekanntes englisches Vorbild zurück. Als Wolf Maahn 1986 seinen Song „Tschernobyl (Das letzte Signal“)“ auf die in grünen Belangen inzwischen sensibilisierte Republik losließ, nahmen Pop-Interessierte einigermaßen erstaunt zur Kenntnis, dass Maahn sich hier sehr großzügig bei „Shout“ von Tears for Fears bediente. Textlich beschritt der Kölner Sänger – damals wie BAP, die Bots, Purple Schulz oder Klaus Lage bei der EMI unter Vertrag und mit dem damaligen Musikproduzenten und heutigen Linke-Abgeordneten Dieter Dehm kreativ verstrickt – freilich ganz andere Wege. „Tschernobyl“ eröffnet mit einem von Maahn etwas zu rockstarviril vorgetragenen Spoken-Word-Part: „Mittlerweile schreiben wir das Jahr 1986. Die Ausbeutung und Zerstörung der Natur hat wahrlich gigantische Ausmaße erreicht“, berichtet Maahn und hört sich dabei an wie ein cooler Sozialkunde-Referendar. Dann macht der donnernde Refrain alles klar: „Who-o-o-o Tschernobyl / das letzte Signal vor dem Overkill / He – he / Stoppt die AKWs – he“. Die zweite Strophe ist beste 1986er Umwelt-Lyrik: „Strahlenmesstrupps zieh’n durch Straßen und durch Parks / Halten Geigerzähler über Milch und Kopfsalat / Nachts weinen alle Kinder: „Mama, sag es ist nicht wahr: / Wir war’n doch heut im Regen, sag mal: Sind wir jetzt verstrahlt?“.
Es brauchte schon einen wie Maahn, um Agitation und Pop in Deutschland so konsequent zusammenzudenken: Der Produzent und Sänger dachte den Song von vornherein hörbar als große All-together-now-Nummer. In der ZDF-Hitparade sangen immerhin unter anderem Wolfgang Ambros, Thommy Engel, Drafi Deutscher und die Ace Cats (!!!) mit. Beim Festival gegen die Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf waren dann schon Spliff-Schlagzeuger Herwig Mitteregger, Anne Haigis, Marian Goldt von Alphaville, Wolfgang Niedecken und Herbert Grönemeyer dabei. Die beiden Letztgenannten hatten sich in der Vorbereitung dieses bis heute größten deutschen Festivals heillos zerstritten und sollten danach lange nicht mehr miteinander sprechen. Ach, die Achtziger Jahre in Deutschland – nie werden sie aufhören zu faszinieren.
Gänsehaut lösten sich bereits 1984, nachdem ihr zweites Album „Augenblicke“ gefloppt war, nur drei Jahre nach ihrer Gründung wieder auf. Grobschnitt spielen immer noch gelegentlich; 2012 führten sie gemeinsam mit einem Sinfonieorchester in ihrer Heimatstadt Hagen an vier Abenden das 70er-Album „Rockpommel’s Land“ in Gänze auf. Auch Wolf Maahn ist immer noch aktiv. Zu dem „Tschernobyl“-Song steht er weiterhin, schätzen sollte man ihn aber eher für einige seiner bedachteren Stücke.
Bei der Hambi-Kundgebung am vergangenen Samstag spielten unter anderem Revolverheld. Der Kampf geht weiter. Hambi bleibt. Und die Erde bricht.